Dienstag, 9. Februar 2016

Sophokles und die Pink Floyd










Flüchtlinge scheint es keine zu haben hier.



 Ausser denen, die schon vor längerer Zeit geflohen sind. Aus Deutschland, Holland, Frankreich und der Schweiz. Einer von ihnen ist schon seit den 70-er Jahren hier. Angefangen hatte er mit Höhlenleben, Strand und Liebe. Er hat`s durchgezogen. Die Höhle ist zur zahnlosen Mundhöhle geworden, gestrandet, dünkt mich, sei sein Geist (das Herz sei ebenso wichtig, hat er herausgefunden, und auch, dass alles gut komme), und die Liebe gilt nun dem Raki. Die grössere Gruppe machen die Pensionierten aus, deren frühere Zahnpflege im mitteleuropäischen Leben sich gelohnt hat – und das mit der Pflege des Geistes, sagen wir, ist unterschiedlich bei ihnen. Hauptsache, man wähnt sich glücklich, wenn man täglich mit dem Suzuki-Jeep von seinem schmucken Häuschen an die Front zu Corinas Bar tuckert, um dort mehrere Stunden bei Bier und Raki zu tratschen und sich zwischendurch auf die Schenkel zu hauen (auf die eigenen).




Mir gefällt`s an meinem ruhigen Platz, meine Aktivitäten (auch die geistigen!) sind auch nicht auf hohem Niveau, ich lese, mal sitzend, mal liegend, beobachte die Sonne auf ihrer Bahn, und wenn ich mir auf die Schenkel klopfe, mache ich es ohne brüllendes Lachen.

Heute ein Ausflug in die Berge. Zu einem kleinen Dorf, das man von unten am Berghang leuchten sieht. Christos heisst es. Vor einem Häuschen steht ein Mann. Gepflegt wäre anders (er und das Haus). Er hält zwei Bücher in seinen schmutzigen Händen und grüsst auf Englisch, welches er sich selber beigebracht habe, with books. Er zeigt mir eine dicke Ausgabe des Oxford Dictionary, Griechisch-Englisch. Er ist gerade daran, ein englisches Buch zu übersetzen, weiss aber nicht, wie das Buch heisst, denn der vordere Teil fehlt. In einem Heft hat er eine eigene Geschichte zu schreiben begonnen. Es handelt von einer Frau, die ihren Mann verlassen hat. „Warum hat sie ihn verlassen?“ Das kann er mir nicht sagen. „Wer war der Mann mit dem Bart, der sich vorher von dir verabschiedet hat?“ „Das war der Psychologe aus Hiraklion, der manchmal zu mir kommt, mit mir redet und mir eine Spritze gibt.“ Dann macht er Kaffee. Die Küche sieht aus als hätte ihn seine eigene Frau vor hundert Jahren verlassen. Ich solle mich mit dem Kaffee draussen aufs Mäuerchen setzen, er mache dann Musik dazu, das sei schöner für mich. Ob ich Pink Floyd kenne? Und er beginnt, in eine billige Plastik-Blockflöte zu blasen. Das geht auch ohne Zähne, nur der zähe Lungeninhalt sträubt sich mit brachialen Hustenausbrüchen gegen feines Atmen. Ich lüge und sage, dass ich den Song erkenne. „The wall“, sagt er. „What`s your name?“, fragt er mich. „Christos“, sage ich, „and your name?“ „Sophokles.“ – Mir kommt der Song der Television Personalities in den Sinn: „I know where Syd Barrett lives“. – Und ich weiss, wo Sophokles lebt.