Montag, 15. Februar 2016

M.A.T.A.L.A.










Das Leben ist today. Ein Tomorrow kommt nicht.



Dies steht – immer noch, wohl einige Male nachgebessert – an der Strandmauer von Matala. Und yesterday war mal, müsste man jetzt daneben schreiben.

Schon lange vor yesterday soll sich hier Wunderliches zugetragen haben. Ein Stier ist hier an Land gegangen. Verständlich, denn das Wasser ist ja nicht sein Element. Er kam nicht allein. Er hatte eine a) schöne und b) gestohlene Prinzessin dabei. Der Stier war Zeus himself, und seine unfreiwillige Begleiterin hiess Europa. Was dann die beiden im heissen Sand oder im Schatten eines Olivenhains getrieben haben, bleibt der Phantasie überlassen. Und die stellt sich den dunklen, schweren,  kraftstrotzenden, noch nach Salzwasser riechenden Bullen vor, der sich schnaubend und schäumend über die zierliche Schönheit hermacht. Ob sie es auch genossen hat? Und mit welchem Gefühl hat sie dem stierigen Zeus ein paar Wochen später eröffnet: „Du, ich glaube, ich bin schwanger“?

Später (oder noch früher?) hat man in die Kalksandsteinfelsen, die Matala in ihrer Zange halten, Höhlen gegraben, deren kultischer Zweck erst nach Jahrtausenden, nämlich in den 60-er Jahren des letzten Jahrhunderts, klar werden sollte: Es kamen die Hippies. Sie belebten die Höhlenwelt mit dem Duft von Kerzen, Cannabis und frischem Sperma. Und, dem Vernehmen nach, am Rande auch mit reichlich Blumenkinderkacke. „Today is life, tomorrow never comes.“ Auch ein gewisser Bob Dylan ist hier an Land gegangen (ob er auch stierig war?).





Und jetzt, today? – Der Zugang zu den Höhlen ist unten mit einem Zaun zugesperrt. Für 3 Euro Eintritt darf man jedoch hinein und die Höhlen als römische Grabstätten betrachten.

Das Dorf ist zu einem Touristenkaff geworden, jedes Haus ist eine Bar, eine Taverne, ein Laden oder vermietet „rooms-for-rent“. Vieles immer noch mit der verbleichenden Aura der Zeit der Blumenkinder. (Wie lange ist es her, dass ich zum letzten Mal das Peace-Symbol an einer Mauer gesehen habe…!) Zweite Klammer: (Ich möchte mich nicht lustig machen über die Hippie-Zeit. Dass viele Menschen den Lebenssinn nicht im vorgegebenen „Fortschritt“ oder in der Bombardierung des fernen Vietnam sahen, verdient Respekt. Auch wenn das freie Lieben und Kacken vor der Haustüre der einheimischen Kreter aus heutiger, politisch korrekter Sicht…, na ja. Aber der „Peace, love and music“-Gedanke hätte sicher mehr Wirkung – Nachhaltigkeit sagt man heute – verdient als nur die, dass sich Big Brother das Bunte und Freie davon einverleibt hat, um es der Welt in verwandelter Form von auch buntem und freiem Konsumkack mehr als reichlich zur Verfügung zu stellen.)


Ich versuche Quellen anzuzapfen. Zuerst mal scheu im Internet:


„Wir haben nicht einfach nur so rumgelegen am Strand, wir wollten die Welt verändern, Vietnam war ein Teil davon. Wehrdienstverweigerer aus aller Welt hatte es bald hergezogen. Selbst ein Star wie Joni Mitchell hat hier gelebt. Ach, die Tage von Matala: Wir hatten einen Traum! Die Amerikaner flogen gerade zum Mond, wir wollten so etwas wie das Gegenteil des Fortschritts sein. Es war toll.“


Dann finde ich etwas über einen gewissen Scotty. „Scotty, der letzte Hippie von Matala“! Er sei eher säuerlich geworden im Alter. Sagen die einen. Andere verehren ihn posthum. Posthum, weil er inzwischen im (Blumen-)Himmel sei. Sagen die einen. Hier höre ich aber von Leuten, er sei in Hiraklion im Altersheim. Und erst im Raki-Himmel.


„Nun auch Scotty (2009) :

Habe vorgestern über D`s Homepage erfahren, dass leider der "letzte Hippie von Matala" vor ca. drei Wochen von dieser Welt gegangen ist.“


Dazu ein letztes Foto von ihm, auf einem Bänklein sitzend, den Stock daran angelehnt, die Beinchen herabbaumelnd.


Sonst gibt`s im Ort ein paar handverlesene Freaks um die 50, die sich mit kleinen Arbeiten ihre Zigaretten und ihren Raki verdienen. Freie Liebe oder auch unfreie (wie die der ent- und dann ver- oder vorgeführten Europa) ist mangels Girls nicht zu haben. Vielleicht mit der Armenierin, die zu Sowjetzeiten in Moskau Dr. med. psych. wurde, dann alles hingeworfen hat und sich jetzt hier dem freien Alkoholikerleben hingibt. – Ich versuche mir vorzustellen, was mit Matala geschehen würde, wenn die Alkoholleitungen eines Tages für längere Zeit versiegen würden…

In der Music Bar, einem der wenigen jetzt geöffneten Lokale, sitze ich einem Weissbärtigen gegenüber. Den längsten Teil des Bartes hat er zu einem Rasta-Zopf gemacht. Sein Blick ist wach, seine Ausstrahlung weltfreundlich. Er lädt mich zu sich an den Tisch. Voilà: Ein einheimischer Zeitzeuge. Er erzählt von der Zeit, als Matala aus 14 Häusern bestand, und gegenüber bei den Höhlenfelsen 300 Hippies lebten. Er hat an deren Leben teilgenommen und einige interessante Leute kommen und gehen gesehen. Er produziert sich nicht mit seinen Erinnerungen, er berichtet einfach davon und möchte wissen, welches denn für mich die prägendsten Schriftsteller waren. Wir spielen uns Namen zu, querbeet, wie es in solchen Situationen geschieht: Dostojewski, Bukowski, Kafka, Joyce, Sartre, Tolstoi, auch Goethe und Schiller (er!), Kazantzakis (ich). Nach einigen Rakis (ohne geht`s einfach nicht) finden wir ein anderes gemeinsames Interessengebiet und können das Aufzähl- und Beifallspiel damit fortsetzen: „Barcelona – jaa! – Real Madrid – neiiin! – Chelsea – neiin! – Liverpool – jaa! – Bayern München – neiin! – Borussia Dortmund – jaa!“ Profunder allerdings. Experten sind wir eh, und Lambros hat in der Hippie-Kolonisationszeit Englisch, Deutsch und Französisch gelernt. (Erst später fällt mir auf, dass wir unser Einverständnis beim Thema Fussball jedesmal zusätzlich mit einem freudigen Handschlag bekräftigt haben, was bei den Denkern und Schreibern nicht der Fall war.)




Zurück zur Historie: Was ist aus Europa geworden? Was war nach der romantischen Vergewaltigung durch den bärtigen, stierigen Alten Griechen? Nun, die Geschichte war immer wild und unzimperlich und vergisst nichts. Europa nimmt jetzt Rache an den Griechen, nachdem sie diese lange in falscher Sicherheit hat wähnen lassen. Unter dem Namen „Operation Euro“ heizt sie ihnen ein und schnallt ihnen stierisch stur und stetig ein Stück mehr Keuschheitsgürtel um. Aber weiss sie um die Entschlossenheit und Widerstandskraft der aus dem Schlaf Geweckten? Die werden nicht aufgeben, bis der letzte Tropfen…, jawolll, der letzte Tropfen Raki im letzten Traktor versickert ist.