Samstag, 20. Februar 2016

"Ela!"









„Ela!“, sagen sie oft. Oder gar: „Ela, ela!“



„Ela!“, sagt er zu mir und stellt eine grosse mit Orangen gefüllte Tragtasche hin. Noch ein heiteres Lächeln, und er steigt wieder in seinen Pick-up und fährt weg. Ich bin gerührt. Nicht nur vom Geschenk, sondern mehr noch von der Art der Übergabe. Ein offenes „Ela!“ und weg.

Am Morgen hat er etwas weiter hinten gearbeitet. Unkraut unter den Olivenbäumen ausgerissen und dürre Äste und Laub verbrannt. Er musste zweimal am Rolling Sweet Home vorbei. Man grüsst sich freundlich und hebt vielleicht die Hand. (Und ich denke dabei eine Sekunde lang an die ärmlich-neurotische Territorialverteidigungshaltung in England: „This is no ……………!“)

Jetzt weiss ich: This is an orange delivery point! – Nach getaner Arbeit ist er gegangen, kommt aber nach einer halben Stunde nochmals zurück. Um die Orangen zu bringen. „Ela!“ und tschüss.

Gerührt sein ist erlaubt.

Vor gut 40 Jahren war ich das erste Mal auf Kreta. In einer Zeit, als die Engländer im Norden noch freundlich waren und, wenn man angehalten hat, gefragt haben: „Are you lost?“. Die Kreter (die Griechen) wurden von den Stiefeln der Militärjunta regiert. Es war schwierig, Milch zu bekommen. Die Biscuitpackungen hatten den gleichen Namen wie der Junta-Chef: Papadopoulos. Die Kreter waren warmherzig, bescheiden und stolz. Wenn der Stolz mit Bescheidenheit einhergeht, mit Genügsamkeit, dann ist er überzeugend. Dann drückt er auch Freude am Leben aus. „Schau, was ich habe! Und ich gebe dir davon.“ Wie der Ire, der mir damals in Dublin nach dem verlorenen Spiel seiner Fussballnationalmannschaft die Hand reichte und sagte: „Well done“. Kein Kriechen und kein Aufplustern, kein Jammern und kein Beschönigen, kein Keifen und kein Kneifen, einfach „So ist`s, and it`s okay“. Das ist Stolz. Das rührt.

Warum (um den Satz mit diesem Fragewort zu beginnen) sind alle Kreter, denen ich begegne, freundlich (Punkt). Ausnahmslos. Ein offener Gruss, ein herzlicher Blick, vielleicht ein „Woher kommst du“. Wer Englisch spricht, antwortet auf eine Frage nicht mit „yes“, sondern mit „of course“. (Wer nicht Englisch spricht und ins Dorf hinunterfährt, um danach mit ein paar Kilo Orangen wieder zu kommen, sagt „ela“.)

Mehr als 40 Jahre später. Nichts von „Die Welt hat sich eben verändert“ und „heute dreht sich alles nur um…“ und „der Stress“ und „der Tourismus“ und „die Globalisierung“ und „die Medien“ und „die Pornographie“ und „die Schuldenkrise“ und „die Deutschland-EU“. Keinen dieser Gründe muss man heranziehen, um sich zu erklären, warum die Menschen verständlicherweise anders, verschlossener, weniger interessiert, abweisender und weniger tolerant geworden sind. Sie haben noch dieselbe Ausstrahlung. Sie haben ihre Oliven, ihre Früchte, ihre Schafe, ihren Raki und (anstelle der Drachmen) ein paar Euro in der Hosentasche. Und (ist das die Erklärung?): Sie haben ein starkes, gesundes und widerstandsfähiges Herz. (Die Italiener haben ein lebendiges Gemüt, die Deutschen eine grosse Körperlänge, die Chinesen Schlitzaugen, die Amerikaner fette Ärsche, die Holländer Plattfüsse.) Und die Kreter (Griechen?) ein stolzes Herz. Ela! Scheint genetisch bedingt zu sein.

Mir kommt Nikos Kazantzakis in den Sinn. Auch ihn lernte ich bei meinem ersten Aufenthalt auf Kreta kennen. Beziehungsweise sein Denkmal in Hiraklion. Sorbas – geballte Lebenslust. Kazantzakis hat auch anderes erfahren: Die Not und die Grausamkeit während der deutschen Besetzung, dann den auch grausamen innergriechischen Kampf der kommunistischen Partisanen gegen die Faschisten. Das Fazit seines Lebens steht auf seinem Denkmal: „Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei“. Ela.

Klar täuschten und täuschen sich manche Griechen in der Annahme, das einfache Leben gehe weiter und werde gleichzeitig durch ein Stück europäischen Fortschritts bereichert. Oder meinten sie das gar nicht? War es die Etage der Politiker und der Reichen, die sich vom Zusammengehen mit Europa etwas versprachen? So oder so: Die Griechen sind keine Brüsseler Beamte, die sich von morgens bis abends mit dem Erlassen und Einhalten von rules and regulations befassen. Sie lachen über die sauberen, gleichförmig genormten EU-Kartoffeln. Im Verinnerlichen des Normierens sind andere die Musterschüler: „I think, this potatoe isn`t well shaped, is it?“ oder „The boss says, you may stay here, but we must (we must!) charge you with 10 Pounds”. Oder der Schweizer Bauer, der mich mal abseits bei einer Holzarbeiterscheune entdeckte und darauf mit einem Gemeindebeamten zurückkam, welcher erklärte (erklären musste), dass auf ihrem Gemeindeboden ein generelles Campingverbot gelte. Kein Sack Orangen, sondern jetzt gleich gehen! Ela!

Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, die drei Gänse schnattern manchmal vorbei, beim Kommen die grösste vorn, beim Weggehen die kleinste vorn, die Forellen-Taverne am gegenüberliegenden Ufer hat noch nicht geöffnet. Ich bin im Landesinnern an einem Weiher, hinter mir die ersten felsigen Berge, vor mir die Olivenhaine. Neben mir ein Glas frisch gepresster Orangensaft.