Donnerstag, 3. März 2016

Die Leere des Hercules









29. Februar 2016



Die Erde ist nur ein Klacks im über-welt-igenden Universum. Wer hat`s herausgefunden? – die alten Griechen. Die sassen und lagen ein Leben lang an ihren Stränden, haben sich zum Schutz gegen Hitze oder Wind mit Ziegenfett eingeschmiert, die Wellen beobachtet, in die Sonne geschaut und nachgedacht über das Woher und Wohin, über das Wie und Warum, über die Mechanismen der Ewigkeit und Unendlichkeit und über den Sinn ihres eigenen beschränkten und kurzen Seins im Hier und Jetzt. Wie es die vielen Suchenden und Fragenden heute tun, die sich jedes Jahr auf die zahllosen Strände verteilen. Man bleibt zwar nur etwa zwei Wochen für ein Short Soul Clearing da, kann die inzwischen verbesserten Unterkunfts- und Verpflegungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen, sowie die den individuellen Bedingungen angepassten faktorabgestuften und geruchsmässig verfeinerten, aber immer noch auf den alten Ziegenfettrezepten basierenden Sonnenschutzmittel. Nivea, übrigens, war die Göttin der Ziegen, Schafe und Esel, und die Griechen haben früher mit deren Essenzen bereits die Neugeborenen eingerieben, auf dass sie später den Weg des Wissens und der Weisheit beschreiten mögen. Und wenn heute am Strand die holländische Mutter zu ihren Kind sagt „Geh mir aus der Sonne!“ oder der deutsche Vater den Ulf und den Heiko mit einem „Störet meine Sandburg nicht!“ vertreibt, sind das seit Jahrtausenden zu hörende Ausrufe der forschenden und sinnierenden Hellenen.

Schon lange Zeit bevor sich J.C. in einen Futtertrog der Esel, Ochsen und Schafe gebären liess, um uns als seine pragmatischste Tat einen Anfang für die Zeitrechnung zu geben, haben die Griechen herausgefunden, dass dem Tag die Nacht folgt und dieser wiederum der Tag, dass der Tag beginnt, wenn die Sonne aufgeht und die Nacht, wenn sie untergeht, dass die Sterne am Tag nicht verschwinden, sondern einfach schlecht zu erkennen sind, dass man die Tage mit Strichen im Sand zählen kann („Störet meine Striche nicht!“), dass man, wenn man dies über Jahre tut, einen Rhythmus erkennen und damit eine Zahl von Tagen bestimmen kann, an denen es heiss und dann kalt und wieder heiss ist, dass also der Kreis („Störet meine Kreise nicht!“) ein ewiger Zeitkreis ist und doch einen Anfang und ein Ende hat. Das Jahr wurde entdeckt, mitsamt der Anzahl Tage, die es hat, nämlich 365.

Doch es waren und sind die Zweifler, die uns weiterbringen. Einer, der das Resultat der 365 Tage angezweifelt hat, hiess Hercules. Ihm werden ja sonst andere Taten und Eigenschaften zugesprochen, aber dass er auch auf dem Gebiet der Zeitmessung etwas Wesentliches geleistet hat, sollte ich vor einigen Tagen erfahren, als ich aus purem Zufall auf den Ort seines Wirkens gestossen bin. Es war – der zweite Zufall – der 29. Februar, der Schalttag.

Ich fahre mit dem Velo der Küste entlang. Mal führt die Strasse zwei Kurven aufwärts über einen Felsen, mal flach durch eine kleine Ebene. Diese Ebenen sind oft nicht schön, weil sie vollgepfropft sind mit Plastikgewächshäusern. Die Neugier treibt mich aber in ein Strässchen und ich suche den Weg durchs Plastiklabyrinth zum Meer. Vorne an der Küste steht eine kleine Holzhütte, die sich erst auf den zweiten Blick als Kneipe erkennen lässt. Die Tür ist verschlossen. Doch es kommt eine Frau und öffnet. Sie bittet mich höflich herein. Ich frage nach einem Glas Wein, worauf sie mit einer fast leeren Petflasche daherkommt und sagt, dies sei der Rest, den sie noch habe. Sonst habe sie noch Raki, Bier und Wasser. Für einen Einkauf fehle das Geld. Und ohne Angebot und ohne Gäste gibt`s keinen Gewinn – einfache Wirtschaftslehre/leere.





Im Raum stehen ausser ein paar Tischen und Stühlen ein Holzofen, eine Kiste Orangen, ein Pepsi-Kühlschrank, ein Kinderwagen und ein Babystuhl. Und ein rotes Motorrad, Marke Sachs, Modell Hercules. Der Mann kommt dazu, setzt sich an einen Tisch und lässt sich einen Raki bringen. Sie sitzt auf ihrem Stuhl, hantiert mit Spielkarten, die sie aber weder zum Spielen mischt, noch ordnet, sondern irgendwie zählt. Sie raucht dazu. Er raucht sowieso. Ich auch. Ist es einfach eine friedliche Stille und Ereignislosigkeit? Wartet man auf etwas oder jemanden, oder wartet man nur bis der Tag zu Ende ist? Ich unterbreche die Stille, indem ich aufs Motorrad zeige und „Hercules!“ sage. Als wäre dies das Code-Wort für den Eintritt in die Unterwelt, beginnen die beiden zu reden: Hier, genau hier, habe die Hütte des Hercules gestanden. Und hier vorne – sie deuten durchs Fenster zum Strand hinaus – habe er die Sonnenaufgänge beobachtet und die Tage des Jahres gezählt, bis er als alter Mann zur Erkenntnis kam, dass alle vier Jahre ein Tag fehle, den man als leeren Tag einfügen müsse. Für sie, erklären die beiden, die auf diesen paar Quadratmetern dieser Erkenntnis lebten, für sie sei der heutige Tag nicht der Schalttag, sondern der Leertag. Die Werktage seien zum Arbeiten, die Sonntage zur Erholung und Besinnung, aber der Inhalt des Leertages sei das Nichts, das ausschliessliche und reine Ablaufen von Zeit, auf dessen nutzlose Notwendigkeit ihr Vorgänger auf dieser Erdscholle als Ergebnis seiner strändlichen Beobachtungen geschlossen habe.

Ich mache ein paar Fotos dieser denkwürdigen Stätte, dann werden wir wieder still und spüren die Leere. Nein, wir spüren sie gar nicht – sie ist einfach da.





„Hörst du, unser Enkel ist aufgewacht!“ Er wird geholt und in den Kinderwagen gesetzt. Mein „Tutututuu“ interessiert ihn nicht. Er greift nach meiner Uhr. Er hat nur Augen für diese Uhr. Eine Swatch mit Datumanzeige. „Wie heisst er denn?“ – „Hercules.“