Donnerstag, 7. Januar 2016

Verrückt und ver -rückt









Zwei Seelen schlummern, ach, in diesem Land.




Das mag auch für andere Länder zutreffen, und es sind sicher mehr als nur zwei.  Aber zwei ausgeprägte, im Widerspruch zueinander stehende Seelen Britanniens spürt man immer wieder. Oft gleichzeitig und an der gleichen Stelle. Doch ihre Widersprüchlichkeit scheint für sie kein Problem zu sein. Der Fremde aber runzelt schon mal die Stirn, schmunzelt oder sagt sich „Nur nicht aufregen“. Ich vergleiche – wie interessant! – mit dem Wetter: Es ist trostlos verhangen und regnet, und gleichzeitig scheint von der andern Seite her die Sonne. It is as it is.

Um aber zu verstehen, wie Spiessigkeit und Verrücktheit zusammengehen, muss man wohl Brite sein. Als crazy habe ich auch schon andere Länder erlebt, aber punkto Spiessigkeit ist Britain der Superlativ. Rules and regulations auf Schritt und Tritt. Zum Verrückt-werden. (Voilà – Teil der Erklärung?) „Don`t patronise me“, hat mir doch eine nicht eben reizende Dame mal gesagt. Und ich habe mir flucht-nach-vorn-mässig angewöhnt, dies vor mich hin zu sagen, wenn ich mit exzessiven Anweisungen konfrontiert bin, was man zu tun hat oder nicht oder wie oder wie nicht oder wann und wie lange und wer und wer nicht aber nur mit badge. I feel fucking patronised!

Beispiel: Vom letzten Dorf („picturesque village“!), über der Küste gelegen, führt ein Strässchen hinunter zur Bucht. Doch vorher muss man ein gate passieren. Dort steht ein Kassenhäuschen (jetzt unbesetzt), und mehrere Tafeln informieren über das Wer und Was und Wie. Und über die Preise, um sich unten aufhalten zu dürfen. Car: 5 Pounds. OK. Car with boat on roof: 10 Pounds. Hoppla! Die Menschen müssen bezahlen, wenn sie sich in ihrem Land an ihrer Küste ein bisschen die Füsse vertreten möchten! (Sinnigerweise befindet sich hier auf einer Anhöhe auch ein „Folly“, ein verrücktes Gebäude. Eben: Beides nebeneinander.) „No overnight sleeping“, warnt eine Tafel. Der Parkplatz ist gross, und es ist Januar. Um vier Uhr, es beginnt zu dämmern, fahren die wenigen Ausflugslustigen weg. Ich weiss, dass es geschehen wird, und verspüre doch das Kribbeln des Vielleicht-nicht. Fünf Uhr – dunkel. Fünf nach fünf: Scheinwerfer eines Autos nähern sich von oben und kommen heran. Eine Taschenlampe steigt aus und zündet durchs Fenster auf mich. Ich öffne und weiss – ja, ich weiss es - ,was jetzt nicht geschieht. Nämlich dass ich gegrüsst werde. Sondern direkt: „Ich denke, du solltest verlassen. Ich bin das Tor schliessen gehend jetzt.“ „Aber es ist ja erst fünf, und ich habe gerade gekocht, und ich werde nicht overnightsleepen, ich verspreche, die ganze Nacht wach zu bleiben, ich werde den crazy Turm dort oben im Licht des Leermondes beobachten, ich möchte drum mal ein Folly bauen, wenn ich gross bin, wie John Richards Clavell, who built this four floors and 35 feet high tower in 1830, constructed of stone, brick and wood.“ Natürlich habe ich nichts gesagt, auch nicht „Fuck off, you bloody asshole“, was die ganze Situation in ihrer Differenziertheit nie erfasst hätte. Denn: Schuld ist nie jemand. „I`m sorry, but…“ – I`m sorry, but it`s the law, I`m sorry, but it`s private, I`m sorry, but the Landlord is not here, I`m sorry, but it`s closed, I`m sorry, but the neighbours would blame me… I`m sorry, aber ihr seid solche Spiesser! Lasst doch wenigstens das “Sorry” weg, dann klingt es zumindest ehrlicher.



Die Erbauer der Kanäle müssen andere Menschen gewesen sein. Zufriedene, fröhliche, phantasievolle, spielerische und mutige auch. Ich meine die, die alles planen und berechnen konnten und die nötigen Ideen entwickelten. Zum Beispiel, wie man die Höhenunterschiede überwinden konnte. Am einfachsten ist die Methode mit Schleusen. Wie ein Kind schaue ich zu, wie durch Öffnen und Schliessen, Wasser rein und Wasser raus, das Schifflein aufs nächste Niveau gebracht wird. Bei einem längeren Hang baute man eine Schleuse nach der andern, „a flight of locks“. Schön auch daran: Des braucht sei Zeit, pressieren unmöglich. Von Tunnels und Aquaedukten als andere Lösungen habe ich schon geschrieben. Südlich von Liverpool gibt es einen boat lift. Die Schiffe fahren in eine Wanne, und das obere zieht das untere hoch. Manchmal ist eine Konstruktion in die Hose gegangen. So beim Somerset Coal Canal. Hier hätte das Boot mittels eines abfallenden Tunnels befördert werden sollen. Die Anlage wurde aufgegeben, bevor die Photographie erfunden wurde. Der Aquaedukt in der Nähe tut seinen Dienst immer noch. Er lässt inzwischen ausser dem Fluss auch die Eisenbahn zwischen seinen Beinen durch.





Von meinem unvergesslichen, befristeten Aufenthalt auf dem Parkplatz am Fusse des Clavell-Towers  habe ich berichtet, nicht aber vom Turm selber. Als Folly diente er ja keinem Zweck. Vor gut zehn Jahren ist er abgebrochen worden. Stück für Stück, Stein um Stein. Um ihn zwanzig Meter weiter hinten wieder zu errichten. Der Grund ist die abbröckelnde Steilküste. Gut so, aber oh Graus: Jetzt ist er auch mit einem „Private“-Schild versehen. No overnight sleeping… Doch, er werde jetzt (ziemlich teuer) als Ferienwohnung vermietet. Mit prächtiger Aussicht, wie sich am nächsten Tag (für einmal mit Sonnenschein!) zeigt.




„Und was unternehme ich denn heute Abend?“, frage ich mich täglich gespannt. – Kleinstädte sind leer, Dörfer noch leerer, Pubs fast leer – und die Parkplätze total leer! „No overnight life“!

„Liebe Eltern! Es ist super in England. Die Leute hier sind sehr offen und gastfreundlich. Ich werde immer überall eingeladen. Kürzlich hat man mir sogar angeboten, für 10 Pfund die Nacht hinter dem Gasthaus verbringen zu dürfen. Leider habe ich oft Probleme mit der Verständigung, denn die meisten Leute sprechen nur sehr schlecht Englisch. Dann sage ich „Please repeat!“, und dann wiederholen sie es nochmals genau gleich, damit ich es lernen kann. Das Essen ist vorzüglich. Am liebsten habe ich frischen Fisch mit speziell zubereiteten Kartoffeln. So, jetzt muss ich aufhören, meine neuen Freunde warten auf mich.“


Und noch ein Folly. Maybe the folliest one.

Andrew Thomas Turton Peterson fuhr auf See, war in Indien, wurde Rechtsanwalt, wurde reich und dazu noch Spiritualist. Etwa 1880 liess er einen Turm bauen, very high (der Spiritualist), very tall (der Tower), der nur mit Beton (ohne Eisenarmierung) auf 70 Meter hochgezogen wurde. Ausser dass es das weltweit höchste auf diese Art konstruierte Gebäude sei, gehört ihm laut Fachliteratur noch ein weiterer Superlativ, nämlich das hässlichste aller Follies zu sein.

I was there!