Donnerstag, 31. Dezember 2015

Nice weather - Flood likely





„It`s very mild, ist es nicht?“ Und sie meinen das Wetter, nicht das Bier, vor dem sie eng zusammengequetscht am kleinen Pub-Tisch sitzen.


Dies, nachdem es heute den ganzen Tag bei 10° fast ununterbrochen geregnet und auch stark gewindet hat.

Die Verkehrstafeln warnen nicht zu Unrecht vor jeder Senke mit „Flood likely“, wobei das „likely“ eben schon sprachlich sehr nahe beim „like“ ist. Man muss es also gern haben, dieses Wetter. Die werden wohl eines Tages auch den Weltuntergang als „nice“ und „mild“ erleben, nachdem sie mit „Apocalypse likely“-Schildern dafür vorbereitet worden sind. Isn`t it! Ich habe aber gelernt, dass ein mit „Overflow Parking“ beschilderter Platz nichts mit dem Wetter zu tun hat, sondern als zweiter Parkplatz dient, wenn der erste überfüllt sein sollte. Auf diesem Overflow-Parkplatz beim Hollybush Inn geniesse ich seit einigen Tagen das Gastrecht. (Wenn nur meine Bekanntschaft von weiter südlich nie hier auftaucht und mir klarzumachen versucht: „This is an overflow car park, not a caravan park!“)

Leek liegt am Fusse des Pennine-Gebirges. Bevor man die weite, braune Moor- und Heidelandschaft erreicht, kommt man über steile Hügel rauf und runter durch mit Steinmäuerchen eingerahmte Wiesen und dem schmalen Strässchen entlang führende Hecken. Kreuzen nur möglich, wenn man eine Ausweichstelle findet. Gerne setzt man zurück und quetscht sich an eine Hecke und lässt dem Andern den Vortritt, obwohl der auch schon mit dem halben Wagen im Dreck steht. Nein, komm nur. – Nein, du zuerst. Good manners. Und dann höflich danken. „Nice hedge, isn`t it?“ „Scheiss hedge, isn`t it!“, würde ich wohl sagen, wenn ich da täglich durch müsste. 








Zurück zum Wetter: Gestern war blauer Himmel, und die Sonne hatte keine andere Möglichkeit als zu scheinen. Gut für die Statistik, aber vor allem gut um auf die Jagd zu gehen. „Folly hunting“ heisst der Sport, den ich von einigen Engländern übernommen habe. Er ist ungefährlich und gewaltfrei, es sind keine „Blood likely“-Schilder nötig. Es geht so: Man findet heraus, wo es ein Folly gibt, sucht auf der Karte die Ortschaft, neben der es sich befindet (es befindet sich immer ausserhalb einer Ortschaft), und fragt dann danach, falls man es nicht schon von Auge auf einem Hügel stehen sieht. An eines muss ich mich über den Nordhang eines Hügels heranarbeiten, über einen in den letzten Wochen mud-likely-durchtränkten Wiesenhang. Aber man hat`s gesehen – man war da! Nur schade, dass es der Gemeinderat zu einem Denkmal an eine Schlacht hat umdekorieren lassen. Beim andern hat es sogar einen Parkplatz unterhalb, extra für uns hunters, beschildert natürlich: „No overnight parking“ und „No unsuitable activities“. „No overnight bumsing“ also. 
Was ein Folly ist?
In architecture, a folly is a building constructed for decoration, suggesting by its appearance some other purpose, and so extravagant that it transcends the normal range of building to which it belongs. These buildings served no purpose. 18th century follies often featured Roman temples, Chinese temples, Egyptian pyramids, or ruined abbeys, to represent different continents or historical eras.




Frohgemut, die digitalisierte Folly-Beute bei mir, wieder die Pennines streifend und “What a Wonderful Day“ singend fahre ich nach Hause. Und ins Unheil, wie ich erfahren soll.





Heil oder Unheil…
Ich stoppe bei einem grossen Wir-haben-wirklich-alles-Supermarkt, um Brot, Käse und Milch zu kaufen.

Gigantisch, das Angebot. Wie viele Meter Wein, Bier und Schnaps ich abschreiten muss, bis ich zuhinterst bei der dürftigen Brotauslage bin. Süssgebäck, Süsses in allen Varianten, überzuckerte Milchprodukte und Getränke gibt es im Überfluss („Overflow sweetening“!). Ich stelle mir vor, wie lange ein Regal sein müsste, um allein den Zucker aufzunehmen, der in all diesen Produkten enthalten ist. Dasselbe könnte man auch mit den Fetten tun. In Kübeln und als rohe Blöcke müsste man sie auf einer Strecke hinstellen. Dann das Fleisch. Es dürfte nur im Halbdunkel präsentiert werden mit Bildern von industriellen Mastbetrieben und Schlachthinterhöfen, um die Echtheit der Herkunft zu bezeugen. Der Alkohol übrigens dürfte, wie wir es uns von der Käse-Abteilung gewohnt sind, nur von Fachpersonal im passenden Outfit ausgegeben werden. Also von schwankenden, lallenden Voll-Alkis mit rotblau aufgeplusterten Gesichtern und schmutzigen Händen.

Nein, noch besser – und korrekter: Alle diese gesundheitsschädigenden Produkte sollten für den Einkaufenden gar nicht sichtbar sein. Sie sind hinter grossen, grauen Schiebewänden verborgen. Über diesen Schiebewänden steht jeweils diskret angeschrieben, ob man sich vor der Zucker-, der Fett- oder der Kadaverwand befindet. Interessiert man sich für eines der Produkte, verweist einen die Verkaufshostess auf den aufliegenden Katalog, in dem man nachschauen kann, was genau man möchte. Erst jetzt ist es ihr erlaubt, die Schiebetür kurz zu öffnen und das Gewünschte herauszugeben. Den grössten Teil der Verpackung würde eine mit schwarzen Blockbuchstaben geschriebene Warnung einnehmen. „Fett tötet“ wäre fast zu abgegriffen. Aber man könnte dazu hintendrauf die Photo eines im Querschnitt aufgesägten Bauches aufdrucken.  Griffiger wäre: „Würste machen dich und deine Umgebung impotent“. Auf der Rückseite natürlich das entsprechende Bild: die männliche Wurst, aufgedunsen, abwärts natürlich, eitertriefend, glänzend. Und alles müsste sündhaft teuer sein, die sollen nur blechen, diese Gesundheitsverachter!

Den Einkaufskorb am Arm, darin die Milch mit einer abgebildeten Kuh, die eine Blume anlacht, einem Käse mit einem fröhlich-dümmlichen Mönch drauf und einem Brot, auf dessen Tüte „Baked by us“ steht (suggeriert emsige Bäckersleute, die den Teig nach altem Rezept von Hand kneten), gehe ich zur Kasse und bin erstaunt, wie wenig dies kostet, wenn man denkt, was da alles dranhängt: Der Blumenwiesenkuhbauer mit seiner achtköpfigen Familie, die Mönche, die zwischen den Gebetszeiten die Käse drehen und mit Gewürzen aus dem Klostergarten bestreuen, und die fesche Bäckerin, die doch sonntags auch mal länger liegen bleiben und sich vom Bäcker durchkneten lassen möchte.

Soll ich mich nun meines Einkaufs freuen oder schämen? Es bleibt keine Zeit für die Antwort, denn jetzt kommt es, das Unheil. Wie es kommen muss, wenn man allzu genüsslich Böses denkt.

Am Kiosk beim Ausgang will ich noch Zigaretten kaufen. Aber wo sind sie denn, die Zigis? Hinter der Verkäuferin sehe ich nur eine graue Wand. Und dann darüber „Tobacco“. Dann der Katalog, dann die kurze Herausgabe des Stoffes, dann der Wucherpreis und als Zugabe gratis ein Horrorbild auf der Packung. Genau so war`s!

Und wenn Big Brother soweit ist (im Moment ist er es noch nicht, er muss noch ein bisschen Geld verdienen und hat sich daher erst einen Bereich als Zeichen seiner ernsthaften moralischen Instanz vorgeknöpft), dann kommen alle – gleich behandelt – dran. Die Zuckersünder, die Fettsünder, die Chemiesünder, die Tierleichensünder, die Fernsehsünder, die Kindererziehungssünder, die Plastiksünder, die Benzinsünder, die Aktiensünder, die Bonisünder – alle werden überflutet werden von Volksgesundheitsmassnahmen. Yes: Flood likely!