Sonntag, 27. Dezember 2015

Holy Night im Holly Bush






Über Geschmack lässt sich schreiben. Vor allem über schlechten oder mangelnden.





Ich weiss, dass ich nicht der Erste bin, der England als „bad-taste-paradise“ entdeckt. Oder: Wo es keinen guten Geschmack gibt, gibt es eigentlich auch keinen schlechten. „Anything goes“ macht frei. England ist diesbezüglich ein sehr freies Land, man kann geschmacklos frei leben, und man kann sich geschmacklos frei (angezogen) bewegen. Natürlich auch die Pudel und anderes Ungetier.

Was man da an Weihnachtsdekorationen sieht, lässt die Schweizer Varianten als besinnlich erscheinen. Die Plastik-Industrie hat wirklich keinen Mangel an Designern, und die elektrische Industrie bringt den Ramsch zusätzlich zum Leuchten, Blinken und Glitzern. Was anziehmässig zur Zeit grosse Renner sind, sind hirsch-, herz- oder klausbestickte Pullover (missbraucht von Kindern, Mamis und Opas), sowie rot-weisse Zipfelmützen (auf zu dicken Köpfen von Verkäuferinnen oder Vertreterinnen der der rustikalen Weiblichkeit überhaupt). Dass „anziehen“ zwei Bedeutungen hat, strapaziert die Geschmacksnerven des Nicht-wegschauen-Könnenden ziemlich arg. Ich muss ja schliesslich an der Tankstelle bezahlen und kann doch gewissen face-to-face-Situationen nicht ausweichen.

Da ich keine Frau, doch von den Frauen korrekt sozialisiert worden bin, verbiete ich mir genauere Äusserungen zur Erscheinung der englischen Weiblichkeit. Nur soviel: Als Erklärung allein die Launen der Natur dafür verantwortlich zu machen, scheint mir nicht hinreichend… Doch nochmals positiv formuliert: Die Frauen können sich hier frei bewegen, ohne dass sich jemand nach ihnen umdreht. Und das ist doch, wenn ich das richtig verstanden habe, ein feministisches Ziel.

Und denn die Männer? – Da schreibe ich mal als Nicht-Frau, dass ein gewisser Mangel an Ästhetik der männlichen Erscheinung grundsätzlich keinen Abbruch tut. Von dieser Tatsache profitieren  die englischen Männer. Die Freaks von einst tragen ihre langen Haare grau, und ihre schlecht gestochenen, leicht verblassten Tattoos zeugen von einer Zeit, als Tätowierungen nicht ein Muss für jedes Kinderwagen stossende Mami waren. Die jungen Männer, ob kahl rasiert oder langhaarig, stehen eher für Unbekümmertheit oder Coolness, auch wenn sie vielleicht nicht das Bild des Traum-Schwiegersohnes abgeben. Wenn unter den Männern auch etliche dicke Bäuche anzutreffen sind, so ist dies sicher mit dem Einfluss der Natur zu erklären, denn Hopfen und Malz haben nun mal eine entsprechende Wirkung.

Leek ist eine am Fuss des Pennine-Bergzuges gelegene Kleinstadt, unweit von Stoke entfernt und mit diesem nicht nur durch Strassen und Bahnlinie verbunden, sondern auch durch einen Kanal, genauer einen Arm des Trent&Mersey-Kanals, der sich um die Hügel herum hierhin schlängelt. Wo ein Kanal ist, war früher Industrie. Wo Industrie war, stehen noch grosse ehemalige Fabrik- und Lagerhausgebäude. Aber Leek scheint nicht erst dann entstanden zu sein, sein Kern ist älter, denn ausser Backsteinhäusern gibt es auch alte Riegelhäuser. Nice. Und Aldi, Lidl und verstopfte Strassen zeigen, dass es auch den Anschluss an die heutige Zeit gefunden hat…






Ein paar Kilometer ausserhalb findet sich über enge, heckenbegrenzte Nebensträsschen der Kanal, das Ziel meiner Begierde. And what! Steil abwärts über eine erste kleine Buckelbrücke über den einen Kanal, wenig weiter unten die zweite Buckelbrücke über den andern Kanal. Und genau da steht ein Pub, und wenn man`s schafft, kriegt man die Kurve zwischen den Steinmäuerchen durch zum Parkplatz. „Hollybush Inn“.

Es reicht nicht zum Aussteigen, schon kommt jemand herbei. „May I ask you, welches der Grund Ihres Erscheinens ist, und wir erwarten drum viele Gäste auf Weihnachten, und where are you denn from?“ „Switzerland“ scheint das Losungswort zu sein. Sie sagt, dass der Owner des Pubs oft in die Schweiz gehe, an Seilzieh-Wettkämpfe, zückt das Handy und richtet, selber irgendwie erfreut, aus, es sei in Ordnung, auch für mehrere Tage, „my name is Vicky“, und morgen sei die „Christmas Eve party“, ab 8 o`clock, mit Live music. Na also.

Im Pub erzählt Steve von seinen friends in Switzerland und zeigt Photos vom Seilziehen in Engelberg, Stans und Appenzell. Ein erstes Bier ist grad mal gratis. Na also!

Am nächsten Tag muss der Frage nach den zwei parallel auf unterschiedlicher Höhe verlaufenden Kanalarmen nachgegangen sein. Am Nachmittag setzt der Regen für eine Weile aus, es scheint sogar die Sonne. Es reicht für einen Rundgang und einige Photos, um 4 Uhr ist es bereits dunkel.









Es folgt die Heilige Nacht. Pünktlich um acht. Im Holly Bush. Wo denn susch?

Das Pub ist voll. Jung und Alt, Freakig und Züchtig, Vergnügt und Gelangweilt – Weihnachten auf Englisch. Die Live Musik ist nicht etwa ein peinliches Klimper- und Schrumm-Duo, sondern local singer-songwriters mit kurzen Auftritten. Und – England eben – alle haben gute Stimmen und bringen gute Songs, und  – auch typisch England – der älteste könnte der Grossvater des jüngsten sein. Der jüngste übrigens, was für ein Wagnis, bringt als letzten Song „House of the Rising Sun“. Und es gelingt! Leise und sentimental beginnend, erhält seine Interpretation mehr und mehr einen eigenen Groove (sein Vater war ja vielleicht ein Punk). Als letzter tritt ein altes Männchen auf, das die bisherigen Auftritte aus seinem Weihnachtspullover heraus interessiert mitverfolgt hat. Er wird als der allseits bekannte „Rocking Joe“ angesagt. Und er hat`s drauf! Er kann es sich leisten, zum Schluss und zur Überraschung noch „Silent Night, Holy Night“ anzustimmen. Es wird nicht peinlich, es wird fröhlich! (Habe ich schon jemals ein Weihnachtslied und vor allem die, die es singen, als fröhlich empfunden?) „Rocking Joe, the walking juke box“, wie er verabschiedet wird, hat es geschafft.