Mittwoch, 27. Januar 2016

Nach Kreta ("Der Weg ist . . .")








Reportage eines verschonten Rentners



Etwa so: „Gegen Abend kamen wir müde in XY an. Wir hatten heute 1`200 km geschafft, wie geplant. Wir beschlossen, auf den Besuch der Hala-Hala-Moschee zu verzichten. Schnell etwas Warmes essen (eine Dose Frankfurter Würstchen, dazu deutschen Senf) und ein Kalauer Pils aus dem Vorrat. Hanna telefonierte noch mit Zuhause. Alles in Ordnung, wie bei uns auch. Ausser der Schrecksekunde, als Hanna beim Grenzübertritt meinen Pass in ihrer Handtasche nicht gleich fand. Nach der kleinen Mahlzeit legten wir uns schlafen (ein Polizist bestätigte uns, dass der Standplatz sicher sei), denn am nächsten Morgen wollten wir früh wieder los. Es fehlen uns nochmals doppelt so viele Kilometer bis ans Ziel.“

Der Weg ist das Ziel. Dieser gerne bemühte Satz, der nach abgelaufenem Weisheits-Datum klingt, stimmt ja genauso oft wie sein Gegenteil zutrifft. Ich sollte später Flüchtlinge antreffen, die auf dem Weg zu ihrem Ziel waren…

Für die nächsten Tage gilt für mich sicher: das Ziel erreichen. Der Weg (Calais – Athen) ist der Weg. Bei den herrschenden Unter-Null-Temperaturen will ich mich weder auf Frankreich, noch auf Belgien, Holland, Deutschland, Österreich, Ungarn, Serbien oder Mazedonien freuen. Das Ziel ist, ohne gefrorene oder geborstene Wasserleitung, dafür bei scheuem Sonnenschein, im Hafen von Piräus einzutreffen.

„Monsieur, vous avez perdu une roue!“, sagt mir jemand bei einem Halt bei Brüssel. Suchen gehen? Sinnlos. Reserve-Rad montieren? Eher sinnvoll. Aber da fehlt nicht nur das Rad, sondern auch seine Hinterwelt. Montage nix möglich. Also mit drei Rädern weiter. Plus vier vom Auto macht immerhin noch sieben. Positive thinking (auch so eine abgegriffene Redensart).

Bis an die Grenze Mazedonien – Griechenland begegne ich nichts Besonderem. Overnight sleeping kein Problem. Dort aber sehe ich neben der Autobahn in einer langen Reihe wartende Autocars. Sind es hundert? Oder mehr? Zum Teil mit Holiday-SunTour-mässigen Aufschriften. Die würden ja eigentlich im Januar im Stall stehen. Aber jetzt kommen täglich neue Fahrgäste. „Make a break – come and enjoy the freedom in Tschörmeny`s sun!” Oder so. Der Weg ist ….

In Griechenland, zwischen Saloniki und Athen, oft ein ähnliches Bild. Nein, ein anderes: An wichtigen Autobahnabschnitten oder Kreuzungen kilometerlange Kolonnen von eng hintereinander stehenden Traktoren, bereit zur Blockade. Nicht gegen die Flüchtlinge, gegen die Rentenkürzungen. Irgendwo trifft`s mich. Ein (ein!) Polizist leitet den Verkehr auf eine Nebenstrasse. Dann folgt freestyle-Orientierung. Führt die Strasse links nur bis ins Küstenkaff hinunter oder die rechts nur zu einem Bergdorf hinauf? Nach 100km erreiche ich trotz ungenügender Karte und dank dem Kompass (und ohne GPS – jedem seine Sturheit!) die nächste Stadt.

Auf dem letzten Abschnitt bis Athen ist die Strasse frei. Jedoch nicht frei von Schnee. Stimmt, das habe ich auf den bisherigen 3`000 km noch nicht gehabt. Dunkelheit, Regen, Schneefall, blinkende Strassenräumungswagen, Abendverkehr – willkommen in Athen. Piräus – Hafenanlage – Motor abstellen – Wohnwagenheizung anstellen. 18° ist das Ziel.

„Am Abend kam ich in Athen an. Ich hatte die letzten 500km geschafft, wie geplant. Ich beschloss, auf den Besuch der Akropolis zu verzichten. Lieber etwas Warmes essen (ein mitgebrachtes Fertig-Fondue), Brot und Weisswein aus dem griechischen Lidl. Noch im Internet eine Wetterprognose für Kreta suchen und mich dann mit dem Fondue ins Bett legen. Morgen geht die Fähre. Müde und glücklich schlief ich ein.“


Betrachtungen eines Verschonten

Ich bin ein Verschonter. Ich wurde als Verschonter geboren.

Ich kenne es seit Jahren, es ist mein Leben, vom Schicksal Nicht-Verschonter zu hören. Von Menschen in Vietnam, auf die es jahrelang Bomben aus einem andern Kontinent hagelte. Von Menschen, die in Prag mit Blumen (oder mit Benzin zur Selbstverbrennung) vor den Panzern stehen. Von Menschen, die in Indien verhungern. Von Menschen, die in Südafrika schlimmer als Vieh behandelt werden. Von Menschen, die in Chile in Stadien getrieben und bis zum Tod gefoltert werden. Von Menschen, die in Palästina Gefangene im eigenen Land sind. Von Menschen in Syrien (oh schönes, gastfreundliches Syrien!), die gleich von verschiedenen Aggressoren verfolgt, eingekesselt oder vertrieben werden. Von Menschen, die in vielen Teilen der Welt in Blechhütten und zwischen Abfallhalden leben. Manche von ihnen mit kleiner, manche ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft. – Der Weg ist das Ziel…

Ich bin ein Verschonter aus Westeuropa. (Bleiben wir Verschonte? Wovor? Wovor nicht?) Ich beziehe seit 60 eine Rente. Weil sie nicht gross ist, arbeite ich zwischendurch, um sie mit einem 20- oder 40-Tausender aufzubessern. Um mein sorgenfreies Leben führen zu können. Um den 8-Zylinder-Motor des Chevrolet mit Benzin füttern zu können. Um die Krankenversicherung zahlen und mich zwischen Bier oder Wein und zwischen Fleisch oder Gemüse entscheiden zu können. Oder für alles.

Und jetzt wollen die Menschen aus den heutigen Vietnams und Prags und Indiens und Südafrikas und Chiles und Palästinas und aus allen Blechhütten und Abfallhalden zu uns kommen. Zu den Verschonten. Und ich treffe sie. Sie unterwegs, ich unterwegs. Man kreuzt sich. Man grüsst sich. „Wohin des Wegs, Kamerad? – Nach Tschörmeny, sagst du. Da komme ich grad her. Wünsch dir eine angenehme Weiterreise. Oben in Mazedonien warten die Busse auf dich. In Serbien ist`s kalt. In Ungarn auch. In Tschörmeny ist`s wohl anders. Ich meine anders als du denkst.“

Auch ich suche die Wärme. Die klimatische. Für die andere ist gesorgt. Oder ich kann dafür sorgen, wenn ich mich nicht zu dumm anstelle. So stehen wir Wärmesuchenden am Morgen bei Kälte auf dem grossen, leeren Asphaltplatz des Fährenhafens. Drei schlotternde Pakistanis, die auch die Handzeichensprache nicht verstehen, aber ein einziges englisches Wort kennen, nämlich „Tschörmeny“, zwei Afghanen, sehr jung, und ich, der Schweizer Rentner. Wir trinken Kaffee im geheizten Rolling Sweet Home, und alle freuen sich, dass sie ihr Handy aufladen können. Die Pakistanis verschwinden bald, wovon, ausser dem Handy, sie gesteuert sind, dünkt mich, sei auch ihnen nicht klar. Die zwei Afghanen sind anders, sind Goldjungs. Sie waren bisher nicht zusammen unterwegs, kennen sich aber aus ihrem Heimatland und haben sich heute Morgen hier getroffen. Keine überschwängliche, aber eine gefasste, „realistische“ Freude. Der ältere, Hamed, ist 19, der jüngere, Mahdi, erst 15. Allein haben sie sich aufgemacht in eine bessere Zukunft. 



Mir gefällt die Mischung aus Klugheit und Naivität, wenn sie davon reden, was hinter ihnen und vor ihnen liegt. Sie wollen einfach frei leben und tun können, was sie interessiert. Drum haben sie ihren Rucksack mit dem Nötigsten gepackt, noch eine DVD obendrauf mit Photos und ein paar Musikstücken, und sich von ihren Eltern das Beste wünschen lassen. Hamed erzählt alles auf Englisch, das er bei den US-Marines, wo er einen Job hatte, gelernt hat. Stolz zeigt er Photokopien, die dies belegen. Von diesem gut bezahlten Job hat er auch das Geld für die Reise. Er zeigt mir seine MasterCard(!), in einem Kartenspiel versteckt, und seinen Notizblock, wo er Wichtiges (auch Gedanken!) festhält. Mich erstaunt, wie unspektakulär die beiden von ihrer bisherigen Reise erzählen. Ist es Abgebrühtheit, Souveränität, Verdrängen, Selbstschutz? „Von der Türkei kam ich auf einem kleinen Schiff auf eine griechische Insel.“ Punkt. Ja, es könne schon gefährlich sein. Ja, es habe schon etwas gekostet (800 Euro). Dem 15-Jährigen „kam der Rucksack weg“ bei einer Auseinandersetzung in einer Flüchtlingsgruppe. Die beiden hätten ja Stories zu erzählen von ihrem Weg hierher. Sie tun es aber nicht. Der Weg ist der Weg. Das Ziel ist das Ziel.

Noch ein zweites Mal überlegt: Wer einen solchen Weg geht, erfährt, wird konfrontiert, setzt viel aufs Spiel, geht an die Grenzen (im doppelten Sinn), wird geprägt. Der Weg (doch auch) als Ziel? Nein, will mir nicht gefallen. Wenn ein arbeits- und alltagsmüder Europäer quer durch Südamerika wandert oder sich für ein Jahr in ein buddhistisches Kloster begibt, dann ja. Wenn aber eine syrische Familie sich durch die Hitze oder die Kälte kämpft und dann übers Mittelmeer schaukelt, muss man schon die Religionen bemühen, um in diesem Weg das Ziel zu sehen. 

Eben: Betrachtungen eines Verschonten – von seinem Sonnenplätzchen aus.